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Montag, 15. Juli 2013

"Nur ein Traum"

Mit jedem spärlich beleuchteten Bahnhof kostet sie es mehr Mühe, die Müdigkeit nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Menschenleere Wartehäuschen tauchen unwirklich wie Traumbilder auf und wieder ab. Wie viele Haltestellen noch bis nach Hause? Früher, als das hier noch ihr Schulweg war, wusste sie es, doch sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Drei Semester ist es erst her, dass sie noch Schülerin gewesen ist, doch das scheint einem anderen Leben anzugehören. Neue Freunde, neues Zuhause. Die Eltern nur noch einmal im Monat sehen. 
Der Krimi muss zwar erst bis Montag fertig gelesen sein, aber wer weiß schon, wie viel Zeit zum Lesen ihre Mutter ihr lässt, also lieber hier in der Bahn auf dem Weg nach Hause anfangen zu Lesen. Darüber beschweren, dass so viel zu tun ist, das darf sie nicht. Sie hat es sich ja selbst so ausgesucht. Literaturstudium... Gewöhnlich fällt ihr es nicht schwer, in einem Buch wie diesem den Mörder schon vor der Polizei zu finden, doch im Moment hat sie ihre liebe Mühe damit, überhaupt den Überblick über die lange Liste von Verdächtigen zu halten. Sie hätte sich mehr Notizen machen sollen.
Gelangweilt schaut sie von dem Buch auf. Zwei erregte Stimmen dringen aus dem Abtiel neben ihr. Bis jetzt dachte sie, dass sie alleine um diese nachtschlafende Zeit im Zug ist. Die dominierende, dunkle Stimme wird nur selten von der helleren durch Klagelaute unterbrochen. Der Mann stößt die Frau auf den Gang hinaus, so brutal, dass sie mit dem durch die Schwangerschaft gewölbten Bauch voran auf dem Boden landet. Nun sind einzelne Worte in einer fremden Sprache - vielleicht Russisch- zu unterscheiden. Durch die Scheiben vor ihrem Abteil sieht die Beobachterin, wie der Mann, dessen Gesicht durch seine Wut zu einer hässlichen Fratze verzogen ist, immer weiter auf die sich am Boden windende Frau eintritt; das streitende Paar scheint nicht zu bemerken, dass es nicht alleine ist in dem rasenden Ungetüm, das sich mit beständigem Tuckern unaufhaltsam durch die Dunkelheit gräbt. Es wirkt, als wäre die Studentin auf der einen Seite der Mattscheibe und würde dem tanzenden und flirrenden Theater der beiden zur Belustigung am Freitagabend folgen. Das der Tanz, den die beiden vollführen wirklich über Sein oder Nichtsein entscheidet, dazu ist das Mädchen in dem Moment nicht in der Lage zu verstehen. Gebannt und froh über die Abwechslung auf der einschläfernden Zugfahrt sieht sie wie der Schlagabtausch hin und her geht. Her und hin; wobei der Mann viel brutaler vorgeht als die Frau, die inzwischen dazu übergegangen ist, nicht mehr auf Angriff, sondern nur noch auf Verteidigung zu setzten.  "Ziemlich unwahrscheinlich, der Film", denkt unsere Beobachterin. Bald darauf hält der Zug mit durchdringendem Quietschen an einem weiteren Bahnhof; die vorletzte Haltestelle. Als die Frau, die bis jetzt immer noch hilflos auf dem Boden gelegen hat, versteht, dass das ihre letzte Gelegenheit ist, um ihrem Mann zu entkommen, und nimmt all ihre verbleibende Kraft zusammen und rappelt sich auf, schmeißt sich gegen die Zugtür. Doch ihr Peiniger packt sie noch im rechten Augenblick mit aller Kraft, presst sie wie eine willenlose Puppe gegen seine durchtrainierte Brust. Was auf den ersten Blick nach einer Umarmung zwischen zwei Liebenden aussieht, ist hier die letzte, verpasste Chance auf Rettung. Obwohl die Beobachterin wie vom Blitz gerührt ist und mit Spannung erwartet, was als nächstes in dem "Film" passiert, begreift sie nicht, dass das alles Realität ist und dass sie selbst die Möglichkeit hat auf zu stehen und die Handlung zu ändern und seltsamer Weise übermannt sie genau in diesem Moment der Schlaf.
"Du siehst aber fertig aus!", wird ihre Mutter sie zu Hause empfangen. "Bist du dir sicher, dass das mit dem Literaturstudium dir nicht zu viel ist, meine Kleine?" - "Ich bin weniger müde als ich aussehe!", wird sie antworten. "Ich habe ja auf dem Weg hierher ja ein wenig im Zug geschlafen. Hatte so einen seltsamen Traum... Fast wie in dem Krimi, den ich gerade lese..."

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